Interview: Vielfalt von Kultureller Bildung im Ganztag

Kerstin, du hast dich beruflich viel mit kulturellen Bildungskooperationen im Ganztag auseinandergesetzt. Warum ist der Ganztag aktuell so sehr im Fokus von Politik und (Fach-)Öffentlichkeit?

Ganztag ist seit 20 Jahren ein großes Thema, weil mit Veröffentlichung der PISA-Studie die Frage gestellt wurde, wie wir unser Bildungssystem bildungsgerechter gestalten können – vor allem für Kinder und Jugendliche, die in ihrer Bildungsbiografie besondere Herausforderungen zu bewältigen haben. Damals gab es eine erste Gründungswelle zum Ganztag mit starkem Fokus auf Ganztagsschule und Bildungsgerechtigkeit. Aktuell gibt es eine zweite Welle, infolge der Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung im Grundschulalter, der ab 2026 deutschlandweit implementiert werden soll. Dieser Diskurs wird eher kinder- und jugendpolitisch geprägt und fragt danach, wie sich Aufwachsen gestaltet und verändert und was Kinder und Jugendliche dafür brauchen. Teilhabegerechtigkeit ist hier ein wichtiges Stichwort. Bezüglich Ganztag spielt aber weiterhin eine wichtige Rolle, inwieweit Eltern eigentlich entlastet werden können.

Kulturelle Bildungskooperationen mit außerschulischen Partner*innen gelten als Chance für den Ganztag. Wie kann es gelingen, formale und nonformale Kulturelle Bildung im Ganztag gemeinsam zu denken?

Dieses „gemeinsam Denken“ bewegt sich auf unterschiedlichen Ebenen, die eng miteinander verbunden sind: vor allem auf der konzeptionellen und pädagogischen Ebene, auf der organisatorischen Ebene und auf der professionellen Ebene. Das heißt: Ich muss genau wissen, welche Zugänge und Möglichkeiten der künstlerische Fachunterricht bietet und welche die non-formalen Angebote, z. B. am Nachmittag oder in Exkursionen oder Projekttagen, und wie sie jeweils auf die Interessen der jungen Menschen reagieren. Ich muss dafür entsprechende zeitliche und reale Räume zur Verfügung stellen. Dazu zählt auch, Kulturelle Bildung nicht an den „Rand“ zu drängen, sondern sie über den Tag und die Woche ausgewogen zu verteilen und ihr gut ausgestattete Räume zu geben. Und natürlich geht es darum, Kulturelle Bildung multiprofessionell zu denken: Lehrer*innen sind mehr als Unterricht und Kulturschaffende sind nicht nur Freizeitakteu*innen. Kulturschaffende können den Unterricht bereichern, engagierte Lehrer*innen wunderbare Arbeitsgemeinschaften anbieten. Und das auch gemeinsam im Tandem. Formale und non-formale Bildung dürfen also nicht miteinander ausgespielt werden, das eine ersetzt nie das andere. Ganztag ist vielmehr der Ort, sich gegenseitig zu stärken. Nur wenn dies gemeinsam gedacht und umgesetzt wird, ergibt sich ein vollständiger Zugang zu kulturellen Bildungsqualitäten.

Und welche Impulse bringt non-formale Kulturelle Bildung in den Ganztag ein?

Non-formale Angebote bringen ergänzende Perspektiven in den Ganztag: Kinder und Jugendliche entscheiden sich frei und freiwillig für eine Teilnahme. Diese Angebote sind stärker orientiert an den unmittelbaren Interessen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, während Unterricht die kulturelle Allgemeinbildung für alle Kinder und Jugendliche sichert. Ein weiteres wichtiges Prinzip im non-formalen Ganztag ist das Experimentieren – also die Möglichkeit, in offene Situationen und Prozesse einzutauchen, befreit von einem Curriculum, von Normierung und Bewertung – auch wenn es im künstlerischen Fachunterricht hier auch viele spannende Entwicklungen gibt. Ich glaube auch, dass der non-formale, außerunterrichtliche Bereich inhaltlich, methodisch und von den Sparten her nochmals vielfältiger sein kann, weil man hier mit externen Akteurinnen arbeiten kann, mit anderen (kultur-)pädagogischen Professionen, mit Künstlerinnen und Kulturschaffenden.

Beide Bereiche müssen sich zudem immer wieder die Frage stellen: Welche Freiräume gibt es für ihre Beteiligung und Mitgestaltung? Inwieweit werden sie als Expertinnen wahrgenommen? In Angeboten außerschulischer Kultureller Bildung können sie andere Erfahrungen machen als im Unterricht, auch bezogen auf ihre Persönlichkeit. Wo der Unterricht einen ersten Anstoß geben kann, kann Ganztag Freizeitinteressen noch einmal anders in den Blick nehmen und ausprägen. Der Mehrwert entsteht auch auf organisationaler Ebene bei den Trägern: Mithilfe außerschulischer Partnerinnen kann eine Schule ihre Schülerinnen umfassender fördern. Und die externen Kulturakteurinnen wiederum finden Zugänge zu Teilnehmenden, die sonst nicht in ihre Einrichtungen oder zu ihren Angeboten kommen würden. Insofern entsteht der Mehrwert einfach auf ganz unterschiedlichen Ebenen.

Kerstin Hübner

ist Theater-, Erziehungs-, Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin. Sie koordiniert das IU Research Center Kulturelle Bildung und war zuvor als Leiterin des Arbeitsbereichs „Kooperation, Bildung, Innovation“ und stellvertretende Geschäftsführerin bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder und Jugendbildung (BKJ) tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kooperationen unterschiedlicher Bildungsakteur*innen und Bildungslandschaften/-bündnisse. Im Rahmen der Auswertung zum bundesweiten Wettbewerb MIXED UP 2022 zum Thema „Ganztag gemeinsam gestalten“ verfasste Kerstin Hübner 2023 einen Kommentar.

Kulturelle Bildung im Schulentwicklungsprofil

In unserem Service-Bereich finden Sie Informationen und Materialien zum Thema “Kulturelle Schulentwicklung”

Ganztag kind- und jugendgerecht gestalten

© Stefanie Giesder

Wie und durch wen ist der Ganztag zu gestalten, damit er kind- bzw. jugendgerecht ist und Teilhabe- sowie Bildungsgerechtigkeit fördert?

Im Hinblick auf Kinder- und Jugendgerechtigkeit halte ich drei Punkte für zentral:

Zunächst ist da die Orientierung an den Interessen und der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen: Was sind ihre Bedürfnisse? Was brauchen sie, um die Anforderungen zu bewältigen, die ihnen im Alltag begegnen? Schule hat eine Orientierung auf das Zukünftige, eine zentrale Aufgabe ist, Schüler*innen zu stärken und beispielsweise auf ihr künftiges Berufsleben vorzubereiten. Ich glaube aber, dass es junge Menschen auch im Jetzt dabei zu unterstützen gilt, die enormen Veränderungsprozesse zu bewältigen, die die Gegenwartsgesellschaft prägen. Dazu gehört als Zweites das Konzept des „Well-Being“. Ziel ist es, Räume zu schaffen, in denen Kinder und Jugendliche sich angenommen und gestärkt fühlen. Räume, zu denen sie Zugänge haben, in denen sie entspannen können, sie sich nicht diskriminiert werden oder unter Druck gesetzt fühlen. Und das ist eine wichtige Qualität! Ein dritter wesentlicher Aspekt ist Beteiligung, d. h. mitentscheiden und autonom handeln zu können. Wenn ich diese drei Punkte zusammennehme, bin ich bei der Frage: Wie kann ich Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit wirklich unterstützen und Kinder und Jugendliche individuell fördern? Die Antwort auf diese Frage ist die große Chance des Ganztages.

Kulturelle Bildung kann mit ihren außerschulischen Akteur*innen im Ganztag zu den Themen Partizipation, Well-Being, Lebensweltorientierung und individuelle Förderung einen entscheidenden Mehrwert beitragen. Damit sie wirksam in das System Schule integriert werden können, braucht es nicht nur gute Angebotskonzepte, sondern auch Kooperationsmodelle und Organisationsentwicklung. Organisationsentwicklung muss und kann sich auf Schulentwicklung beziehen. Gemeint ist aber ebenso die Entwicklung von außerschulischen Akteur*innen und von Ganztagsträgern. Der Ganztag wird in unterschiedlichen Modellen realisiert. Um ihn kind- und jugendgerecht auszugestalten und andere Perspektiven einzubeziehen, kann und sollte Schule bzw. Ganztagsträger mit externen Partner*innen zusammenarbeiten. Durch eine solche Sozialraumorientierung können Lebenswelten stärker in die Schulen hineingetragen und junge Menschen aus dem Schul- oder Hortgebäude hinausgelockt werden.

Lesetipp zum Konzept des “Well-Being”

Das Wohlbefinden Jugendlicher in Schule und ausserschulischen Lern- und Bildungsorten: Empfehlungen der Expertinnen- und Expertengruppe des Zentrums eigenständige Jugendpolitik. Hier geht’s zum PDF.

In der Debatte um die Einführung des Rechtsanspruchs stehen (auch) Elterninteressen im Vordergrund und somit verstärkt das Thema Ganztagsbetreuung. Was braucht es, um den notwendigen Bildungsaspekt nicht zu kurz kommen zu lassen?

In Bayern, aber auch in anderen Bundesländern liegt der Fokus aktuell sehr stark auf der Betreuung. Natürlich brauchen wir Betreuung und wir brauchen dafür qualifizierte (sozial-) pädagogische Fachkräfte. Aber ich glaube, es muss außerdem ein Bildungskonzept geben und mehr Akteur*innen, die dies gemeinsam und bewusst gestalten. Es braucht dazu eine programmatische Diskussion darüber, welche Qualitäten von Bildung eigentlich in den einzelnen Angeboten stecken, welchen Prinzipien sie folgen. Das geht über die gesetzlich vorgeschriebenen Strukturmerkmale für Qualität hinaus – sprich über die acht Stunden Förderung durch Schule bzw. pädagogische Institution.

Ganztag wird vielfach entlang von Angeboten konzipiert: Als Verantwortliche spreche ich mit dem Sportverein, der z.B. am Donnerstag zwei Stunden Sport macht. Ich spreche mit der Jugendkunstschule, die am Montag  eineinhalb Stunden Kunstworkshop gestaltet. Und ich spreche mit den Wohlfahrtsverbänden, die freitags eine Einführung in Erste Hilfe geben. Damit dies nicht einfach eine Aneinanderreihung ist und damit jeder Partner weiß, welchen Beitrag er zum Bildungskonzept leistet, ist diese gemeinsame Konzept- und Qualitätsdiskussion nötig. Für ein umfassendes Bildungskonzept im Ganztag sind Allianzen notwendig, zum Beispiel mit dem Sport, den Wohlfahrtsverbänden, den Jugendringen und den Kulturakteur*innen. Es braucht eine vernetzte Idee von Ganztag, gemeinsame Konzepte und gebündelte Ressourcen – das gilt es, auch auf kommunaler Ebene im Blick zu behalten. Dabei ist Ganztag natürlich mehr als die Vernetzung von Organisationen und die Sicherstellung von Teilnehmenden für ihre Angebote – er sollte sich vor allem daran orientieren, was Kinder und Jugendliche wirklich brauchen.

„Für ein umfassendes Bildungskonzept im Ganztag sind Allianzen notwendig, zum Beispiel mit dem Sport, den Wohlfahrtsverbänden, den Jugendringen und den Kulturakteur*innen.“

Kerstin Hübner (IU Research Center Kulturelle Bildung)
© Stefanie Giesder

Allianzen bilden

Auf gute Zusammenarbeit in der Ganztagsbildung! Qualität durch Multiprofessionalität, qualifiziertes Personal und kooperationsförderliche Rahmenbedingungen. Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

In der Auswertung des Bundeswettbewerbs MIXED UP hat sich herausgestellt, dass eine Vielfalt von Kooperationsmodellen im Ganztag existieren. Wie lassen sich diese Modelle beschreiben?

Wir haben im Rahmen des Mixed-Up-Wettbewerbs eine Studie von Dr.in Bettina Gördel veröffentlicht. Sie stellt beispielsweise die Frage danach, wie integriert oder desintegriert Kooperationen in schulischen Einrichtungen sind: Inwieweit sind Kooperationspartner*innen tatsächlich an Konzeptionen und auch am Ablauf des Ganztags integrativ beteiligt oder inwieweit kommen sie mit ihrem Angebot nur additiv hinzu?

Bei Kooperationsmodellen sind aus meiner Sicht folgende Fragen bzw. Unterscheidungen hilfreich:

(1) Wie ausgeprägt ist der Schul- und Unterrichtsbezug? Ist der Unterrichts- und Schulbezug groß, folgt man eher einem formalen Bildungskonzept. Hat man weniger Unterrichtsbezug, steckt dahinter oft ein non-formaleres Bildungskonzept, was die eingangs beschriebenen Qualitäten und Prinzipien noch einmal stärkt.

(2) Ist die Kooperation eher pragmatisch, eher inhaltlich gedacht oder an den Subjekten, d. h. an den Kindern und Jugendlichen orientiert? Pragmatisch heißt: Die Träger setzen ihre Ressourcen ins Zentrum und nutzen vorhandene Formate; inhaltlich heißt: Die Motivation der Kooperation liegt darin, Expertise einzuholen, um Schüler*innen bestimmte Inhalte und/oder Fertigkeiten vermitteln zu können. Bei der subjektorientierten Kooperation stehen Interessen und Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen im Zentrum.

(3) Wie ist das Miteinander von Anbieter*in und Abnehmer*in gestaltet? (a)Agieren die Akteur*innen ohne viel Wissen nebeneinander? (b) Stehen sie in einem Dienstleistungsverhältnis zueinander? (c) Bietet ein Partner dem anderen Unterstützung? (d) Oder handelt es sich um eine relativ gleichberechtigte Tandem-Kooperation mit gegenseitiger Unterstützung? In allen vier Modellen gibt es natürlich viele Herausforderungen: In welcher Form und wie regelmäßig stimmen sich Anbieter*in und Abnehmer*in miteinander ab? Wer ist in Entscheidungsgremien involviert? Passieren die Abstimmungsprozesse eher auf individueller Ebene oder sind sie auf Leitungsebene verankert?

Mir ist es wichtig zu sagen, dass jedes Modell seine Berechtigung hat. Ich muss als Organisation nur wissen, auf welcher Ebene ich mich bewege, mit welcher Haltung ich meiner/m Partner*in begegne und was ich in diesem Arbeitsmodus bewirken kann und was nicht. Das finde ich immer sehr entlastend für Kooperationen. Man muss nicht automatisch nach der Tandem-Kooperation streben. Sie ist gut, aber wenn Rahmenbedingungen dafür nicht gegeben sind oder wenn Ziele dazu nicht passen, dann ist ein anderes Kooperationsmodell sinnvoller.

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Kulturelle Bildung im Ganztag

Langfristige Kooperationen als Chance für den Ganztag

Akteur*innen der außerschulischen Kulturellen Bildung wie Vereine, Kultureinrichtungen, Initiativen oder freie Träger der Kinder und Jugendhilfe können im Rahmen der unterschiedlichen Ganztagsformate auf verschiedenen Ebenen kooperieren. Wichtig ist hierbei eine gute Vernetzung vor Ort mit Schulen, Kommunen und Trägerschaften von Ganztag.

MIXED-UP-Wettbewerb 2022

Informationen zum Bundeswettbewerb finden Sie hier.

Kommentar zur Studie MIXED UP

Vielfalt von Kooperationsmodellen Kultureller Bildung im Ganztag: Ergebnisse aus dem MIXED UP Wettbewerb:
Impulse für Reflexion, Entwicklung und Transfer. Weitere Informationen hier.

In der Praxis ist festzustellen, dass unter „Kooperation“ ganz Unterschiedliches verstanden wird. Partner*innen gehen häufig arbeitsteilig vor, d.h. Kulturakteur*innen als Anbietende wenden sich mit fertigen Paketen an Schulen als Abnehmende. Welche Chancen werden durch ein solches Dienstleistungsmodell vergeben? Und worin liegen die Vorteile einer dienstleistungsorientierten Zusammenarbeit?

Dienstleistungsorientierung an sich ist zunächst ein sehr ressourcenschonender Weg, miteinander auszukommen und sich einzubringen. Insofern steckt darin auch eine Chance, weil außerschulische Kulturakteur*innen anhand ihrer Kompetenzen und Prinzipien Angebote gestalten und das gleiche Angebot an unterschiedliche Standorte bringen können, ohne es immer wieder neu konzipieren zu müssen oder viel Abstimmungsaufwand damit zu haben. Das schafft Verbindlichkeit und eine große Klarheit miteinander. Sowohl Anbieter*in als auch Abnehmer*in wissen, auf welcher Grundlage sie miteinander arbeiten. Als Abnehmer*in kann man auch sehr genau aussuchen, wer zu einem passt.

Zugleich werden natürlich Chancen des Miteinanders, des gemeinsamen Gestaltens und Konzipierens verwirkt. Außerdem gehen vielfach Partizipationspotenziale verloren. Die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen haben zwar eine Auswahl an unterschiedlichen Angeboten, aber innerhalb der Angebote können sie oft wenig partizipieren, weil das Format sehr festgelegt ist. Sie können auch grundsätzlich wenig mitentscheiden, wie Ganztag strukturiert ist, wie Angebote konfiguriert oder miteinander verzahnt sind. Man muss aufpassen, dass durch eine Dienstleistungsorientierung nicht eher die Interessen der Einrichtungen und der Organisationsstrukturen bedient werden als die der Kinder und Jugendlichen. Ein weiterer Nachteil am Dienstleistungsmodell ist, dass Multiprofessionalität hier nicht zum Tragen kommt, die ja als Möglichkeit im Ganztag steckt. Wenn Lehrer*innen den Vormittagsunterricht gestalten, Sozialpädagog*innen die Betreuung machen und Kulturpädagog*innen das kreative Angebot übernehmen – und das alles ganz eigenständig und ohne Abstimmung, entwickeln sich die Professionen und ihr Verständnis füreinander nicht weiter. Es bleibt bei einer Zerstückelung ohne konzeptuelle Einbettung. Zuletzt verfestigen sich darin auch Machtverhältnisse: Die*der Anbieter*in kann nicht darüber bestimmen, ob sie*er gewählt wird oder nicht, weil die Schule oder der Ganztagsträger über das Programm bestimmen. Das finde ich bedenkenswert.

Wenn man jetzt die Vor- und Nachteile abwägt, steht letztlich die Entscheidung zwischen Effizienz und Effektivität im Raum. Das Dienstleistungsmodell arbeitet sehr effizient, wenig Input, viel Output. Weniger wichtig ist ihm die Effektivität, also wie wirksam man diese Dinge macht. Wenn Künstler*innen anderthalb Stunden ein Angebot gestalten, können sie unter Umständen sehr frei entscheiden. Das ist gut. Es bleibt nur die Frage, wie viel Wirkung dieses singuläre Angebot entfalten kann, wenn Kinder und Jugendliche nach den anderthalb Stunden in die üblichen Muster zurückfallen müssen, auch weil die kaum in Schulstrukturen eingebundenen Künstler*innen oft gar nicht wissen, was diese üblichen Muster und Anforderungen sind. Dann besteht für mich bei aller Freiheit die Gefahr des Singulären, der Nichtkenntnis des Gesamtsettings. Das ist wirklich ein Großes.

In der Analyse des Mixed-Up-Wettbewerbs spricht Bettina Gördel von zwei Strukturmodellen als besonders zukunftsweisend, also Ganztag als „Kooperationsnetzwerk“ bzw. „Sozialraum- und Bildungslandschaft“. Was sind die jeweiligen Merkmale dieser beiden Konzepte?

Beide Modelle gehen erst einmal von einer Bandbreite an Kooperationspartner*innen aus. Das heißt, sie nutzen unterschiedliche Ressourcen und verbleiben nicht im Rahmen der Schule und ggf. des Ganztagsbetreuungsträgers.

In einem „Kooperationsnetzwerk  wird ein Netzwerk an Kooperationspartner*innen gesponnen. Es wird bedarfsorientiert und flexibel geprüft, was die Schule bzw. die Kinder und Jugendlichen brauchen und welche Partner*innen diese Bedürfnisse gut bedienen können. Zugleich steht im Vordergrund, das Ganztagsprogramm nicht nur am Standort Schule zu realisieren, sondern an dritte Orte zu gehen. Das Modell „Kooperationsnetzwerk“ hat trotzdem eher die Schule als Zentrum und bindet von dort aus unterschiedlichste Kooperationspartner*innen ein.

Das zweite Strukturmodell „Sozialraum und Bildungslandschaft“ geht von vornherein hinaus in den Sozialraum und integriert diesen in das Ganztagsangebot. Schule ist hier eigentlich nur eine Akteurin neben anderen. Der Ansatz ist: Wir wollen eine Bildungslandschaft für unsere Kinder und Jugendlichen bauen, von vornherein in Netzwerkstrukturen denken und den Ganztag letzten Endes als gemeinsame Aufgabe aller Partner*innen sehen.

Welche Chancen und Herausforderungen siehst du in Bayern für eine qualitätvolle Ausgestaltung des Ganztags mit Blick auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung?

Ich bin gespannt, wie stark die Schulorientierung sein wird. In Bayern gibt es durchaus viele Ganztagsmodelle, die schulunabhängiger sind, zum Beispiel Mittagsbetreuung und Horte. Dadurch könnten für Kulturakteur*innen Möglichkeiten entstehen, mit Trägern des Ganztags schulunabhängig direkt in Kontakt zu treten und dort auch Gestaltungsoptionen zu bekommen. 

Interessant finde ich auch, wie stark sich Bayern aufstellen will, das sich gern als erfolgreiches Bildungsland beschreibt.

Der Ganztag ist ja einerseits ein familienpolitisches Thema: Wie aber muss ich das Angebot gestalten, damit junge Menschen unabhängig ihrer Familiensituation es wahrnehmen? Kommen da Kinder, deren Elternteile beide arbeiten? Kommen Kinder, in deren Familie Arbeitslosigkeit verbreitet ist? Ich finde diese Zieldebatte, wem eigentlich ein Angebot im Ganztag unterbreitet werden soll und wie dieses gerecht gestaltet wird, sehr wichtig. Bislang wird diese nur in den Ministerien und maximal noch mit den Ganztagsträgern geführt. Für die Umsetzung des Rechtsanspruchs fehlen Befragungen von Eltern (-verbänden) sowie von Kindern und Jugendlichen, was sie sich für den Ganztag wünschen.

Der Ganztag ist andererseits eine bildungspolitische Frage: Im Fachdiskurs ist man sich relativ einig, dass weg von „Mittagsbetreuung“ hin zu „Ganztagsbildung“ gedacht werden sollte. Dieser Paradigmenwechsel wäre auch in Bayern wichtig. Er mündet in der Frage, wie das Bildungssystem künftig aussehen soll und kann und welchen Beitrag der Ganztag hier leisten soll. Bei aller Leistungsfähigkeit des bayerischen Schulsystems verfehlt auch hier jede/r siebte Schüler*in die unterste Kompetenzstufe im Lesen. Ganztagsangebote, wenn sie denn kompensatorisch zur Schule gedacht werden sollen, könnten im Sinne der Bildungsgerechtigkeit dazu dienen, diese 14 % zu stärken.

Wann werden Herausforderungen eigentlich zu Problemen?

Ein Problem ist für mich, dass die Ganztagsdebatte aktuell nicht konzeptionell geführt wird bzw. werden kann, sondern strukturell. Es geht knallhart um Geld, um Gruppengrößen, um die Anzahl der Plätze, um die Anerkennung von Fachkräften. Das macht Träger*innen und Akteur*innen zu Konkurrent*innen um die äußerst raren Ressourcen. Dabei ist man sich von der Philosophie her eigentlich nahe – und darauf gilt es, sich immer wieder rückzubesinnen:

Beachtenswert finde ich, dass es auch beim Thema Ganztag zu regelrechten Machtkämpfen kommt und dabei auch Konkurrenzen innerhalb des außerschulischen Feldes zutage treten. Früher verlief das Hierarchie-Gefälle zwischen Schule auf der einen und non-formalen Akteur*innen auf der anderen Seite. Jetzt diskutieren Kulturvermittelnde mit Wohlfahrtsverbänden darüber, wer denn eigentlich Gestaltungskompetenz für den Ganztag hat. Es geht nun darum einen Weg zu finden, dass Ehrenamtliche, Kulturpädagog*innen oder selbstständige Künstler*innen Anerkennung erhalten und mit Ressourcen ausgestattet werden, um im Ganztag wirksam zu sein. Machtkonstellationen dürfen sich nicht verfestigen. Kulturelle Bildung ist keine Lückenfüllerin für anderthalb fröhliche Stunden am Nachmittag, sondern ermöglicht Kindern und Jugendlichen wichtige alternative Bildungserfahrungen, die im Interesse aller Ganztagsträger liegen.

Wie kann bzw. sollte die Kooperationsvielfalt flächendeckend gestärkt werden? Welche gezielten Förderstrategien könnten im Hinblick auf die unterschiedlichen Kooperationsmodelle helfen?

Interessant ist zunächst einmal – das zeigt sich auch in der Mixed-Up-Studie – dass die Modelle enorm vielfältig sind. Bei allen Überlegungen zu Finanz- und Qualitätsrahmen muss diese Vielfalt erhalten bleiben – das ist aus meiner Sicht sehr wichtig. Es muss vor Ort darüber bestimmt werden können, welche Kooperationspartner*innen, welche Angebotsformate etc. benötigt werden.

Der zweite Punkt ist meines Erachtens, dass vor Ort und für den jeweiligen Sozialraum Bedarfs- und Potenzialanalysen durchgeführt werden. Dafür könnte man bei Bildungsbüros, Kulturämtern oder andere Stellen abfragen: Wer sind die Hauptakteur*innen? Wer hat außerdem Interesse, am Ganztag mitzuwirken? Wer macht was? Und was braucht es tatsächlich? Was wünschen sich Kinder und Jugendliche, was wünschen sich Eltern, was wünschen sich Schulen und was wünschen sich die non-formalen Bildungspartner*innen?

Das Dritte sind Förderstrategien. Es braucht ganz klar Ressourcenförderung – explizit für den Ganztag insgesamt, aber auch für Kooperationen im Ganztag. Bislang werden fast ausschließlich Ressourcen für die Betreuung bedacht und bereitgestellt, nicht aber für Kooperationsangebote und für die Kooperation selbst, d. h. um Kooperationsgespräche durchzuführen, multiprofessionell zu arbeiten, in Gremien aktiv zu sein. Diese Zeit wird von Kultusressorts und Kulturämtern, aber auch im Schul- und Jugendbereich nicht vergütet, das ist wirklich ein Problem. Da müssen sich die Fördergebenden auf den Weg machen und eine Lösung herbeiführen. Dazu zählt auch, Fortbildung und gemeinsame Begegnungsflächen zu schaffen. Wo treffen sich Lehrer*innen, Sozialpädagog*innen und non-formale Akteur*innen, die meistens zu unterschiedlichen Zeiten und an anderen Orten arbeiten? In Bayern bestehen mit den Koordinierungsstellen wie KS:BAM (Bamberg), KS:NUE (Nürnberg), München usw. zumindest in den Städten schon gute Ausgangsbedingungen. Diese Förderstrategie bräuchte es auch in ländlichen Räumen noch stärker, wo es keine solche kulturelle Infrastruktur gibt wie in den Städten. Und wichtig ist auch eine auf Dauer angelegte Investition in Infrastrukturen. Wir brauchen natürlich Projekte, wir brauchen aber auch Kooperationsprogramme. Diese Programme müssen langfristig sein – und eigentlich müssen erst einmal die Kooperationspartner*innen für ihre Arbeit ausreichend infrastrukturell abgesichert werden, damit sie im Ganztag wirksam werden können. Es nützt nichts, in den Ganztag zu investieren und im Kulturbereich zu sparen? Und das betrifft sowohl die Ministerien und Ressorts auf Landesebene als auch die Verwaltungen auf kommunaler Ebene.

Gibt es zum Abschluss des Interviews noch Gedanken, die du gerne noch anbringen möchtest?

Ganztag bräuchte den Mut für kreativere Lösungen – und das insbesondere jetzt, wo es in Bayern um den Aufbau der Landschaft und um die Suche nach Ressourcen geht. Mein Gefühl ist, dass alle auf die Einführung des Rechtsanspruchs warten, anstatt die drei Jahre zum Ausprobieren zu nutzen. Es wird viel über die Implementierung geredet, was auch richtig und wichtig ist – aber die Implementierung sollte jetzt starten. Dazu bräuchte es ressortübergreifende Allianzen und eine Offensive des Landes: Der Freistaat müsste Geld in die Hand nehmen und ein Vorbereitungs- oder Experimentierprogramm starten, das die Bildungs- und Kulturakteur*innen empowert, Kooperationsstrukturen vorzubereiten und zu erproben.

Vielen Dank, Kerstin, für deine Zeit und die zahlreichen wertvollen Impulse!


Das Interview wurde am 28.8.2023 geführt von Anna Reitberger und Carola Streib (LKB:BY).

Kommunen für Kulturelle Bildung

Landesweit haben sich in mehreren Städten Koordinierungsstellen für Kulturelle Bildung entwickelt. Sie unterstützen Kooperationsvielfalt und zeigen Förderstrategien auf. Weitere Informationen hier.

Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

Die Landesvereinigung Kulturelle Bildung Bayern e.V. richtet mit dem Projekt “Land schafft Kultur” den Fokus auf Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen. Weitere Informationen hier.